Einleitung

Die heutige Göscheneralp (1800 M.ĂŒ.M) im Göschenertal im Kanton Uri ob Göschenen ist eine unter Wanderern beliebte Destination. Die Tatsache jedoch, dass unter den Wassern des heutigen Sees einmal ein kleines Alpdörflein existierte, ist vielen Besuchern und Besucherinnen weniger bekannt. Man nannte diesen Fleck Erde die Hinteralp und seine einstigen Bewohner waren bekannt als GöschenerĂ€lpler. Schliesslich wurde die Alp vom Stausee, der in den Jahren 1954 bis 1962 von den Centralschweizerischen Kraftwerken (CKW) gebaut worden ist, verschluckt. 10000 Aren Wiesland, Allmenden und Alpen, die dort lebenden Familien, die sich von ihrer Heimat trennen mussten, um ins nahe oder ferne Exil zu gehen, 70 StĂŒck Grossvieh und 400 Schafe und Ziegen verschwanden. Die Kirche, die Schule, das Pfrundhaus, die WohnhĂ€user und die StĂ€lle wurden abgebrochen und gingen unter. „Ä See isch gsi, und Ă€ See wird’s wieder gĂ€.“ Das soll ein Alter prophezeit haben, als noch niemand an einen Stausee auf der Göscheneralp dachte. Die Göscheneralp, die im 17. Jahrhundert zur Dauersiedlung wurde, hat so im 20. Jahrhundert ihr frĂŒhzeitiges Ende gefunden, indem sie dem technischen Fortschritt und dem wachsenden Strombedarf unserer Nation gewichen ist. Der Schnitt in der Zeit war fĂŒr die GöschenerĂ€lpler sicherlich der Bau dieses Stausees. Aber vielleicht hĂ€tte es auch ohne ihn irgendwann eine ZĂ€sur zwischen dieser „alten“ und unserer modernen Welt gegeben.

Zwischen 2005 und 2008 habe ich mich auf die Spuren der alten Göscheneralp und deren ehemaliger, noch lebender Bewohner begeben, um ihre Stimmen, Anekdoten und Erfahrungen aus der Zeit vor dem Stausee tonlich einzufangen. Diese Leute sind heute zwischen 64 und 94 Jahre alt. Zur gleichen Zeit sammelte ich Fotografien aus den privaten Sammlungen und Alben dieser ehemaligen Einwohner der Hinteralp und des GwĂŒests. Der vorliegende Ton- und Fotoband und die Ausstellungsreihen prĂ€sentieren ErzĂ€hlungen, Erinnerungen und GefĂŒhle von noch lebenden GöschenerĂ€lplern, die sich zu verschiedensten Themen bezĂŒglich ihrer alten Heimat frei Ă€ussern konnten, und zeigt gleichzeitig einen Teil des privaten fotografischen Erbes dieser Bergregion.

Alles, was uns umgibt, ist unausweichlich dem zeitlichen Zerfall ausgeliefert und lĂ€sst auf die zarte Zerbrechlichkeit des Lebens schliessen. Wir alle sind der Zeit unterworfen, die uns hinweg fĂŒhrt wie ein herbstlicher Windstoss das Blatt vom Baume trennt. Aber was bleibt ĂŒbrig? Werden wir unweigerlich in den schwarzen Schlund gezogen, um in die AbgrĂŒnde der Vergessenheit zu geraten? Sind wir schlussendlich nur wandelnde Schatten? Jeder Mensch unterliegt den Bedingungen der menschlichen Existenz. Ihnen zu entfliehen ist unmöglich, sie zu tragen ein langes und oft schwieriges Los. Jeder Mensch hat eine Geschichte. Sie erzĂ€hlen zu können ist ein unschĂ€tzbares Gut. Wer kennt ihn also nicht, den GöschenerĂ€lpler?

Die einstigen Bewohner der Hinteralp und das, was von der alten Göscheneralp noch bleibt, ist wie der Rest eines Traums, nĂ€mlich die Erinnerung an das, was vor nicht allzu langer Zeit noch war. Das ewige Licht der Alp aber ist lĂ€ngst ausgelöscht. Der Stausee hat die Göscheneralp frĂŒhzeitig zu Grabe getragen. Das vorliegende Werk verfolgt nicht den Zweck purer Nostalgie, sondern es will ein Zeitdokument sein und zeigen, wie stark die damalige Bevölkerung der Göscheneralp immer noch mit ihrem Herkunftsort verwurzelt ist und einen starken Teil ihrer IdentitĂ€t daraus bezieht. Lassen wir uns hier in diese vergangene Welt entfĂŒhren, indem wir gebannt den Stimmen der ehemaligen Einwohner der Göscheneralp lauschen, ihre Bilder betrachten und somit zu WĂ€chtern ihres geistigen Erbes werden. Unvergessliche Fotos und eindrĂŒcklich erzĂ€hlte Geschichten schaffen eine einmalige Verbindung, die Erinnerung als etwas Lebendiges, etwas Gewesenes und trotzdem fortwĂ€hrend Existierendes erscheinen lassen und zeigen gleichzeitig die Wichtigkeit mĂŒndlicher Überlieferungen von Erlebtem, da diese eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart schaffen und so nicht nur der VegĂ€nglichkeit etwas Lebendiges entgegensetzen können, sondern auch fĂŒr den Zuhörer und den ErzĂ€hler stark identitĂ€tsschaffend wirken.

Das Wegziehen der Menschen und die damit verbundene Trennung von Heimat und Bekanntem, das sinnliche Erleben jener Zeit, die so nie mehr sein wird und das Hervorholen des Lebendigen, sprich Menschlichen, das zwischen trockenen Zeitungszeilen oft verloren geht, waren die BeweggrĂŒnde fĂŒr das Schaffen dieses Werks. Erlebte Erinnerungen von Menschen der „alten“ Göscheneralp, die hier direkt zu Wort kommen und deren Bilder uns in ihre ehemalige Welt entfĂŒhren, stehen im Zentrum der Arbeit. Das Werk lĂ€dt zur SchĂ€rfung der Sinne ein, indem es auf unterhaltsame wie auch nachdenkliche Weise den Blick auf den Reichtum und die Vielfalt einer vergangenen Epoche weitet. Es soll eine sinnliche Reise und anregende Begegnung mit dem Anderen sein.

Der unaufhaltsame Zyklus des Lebens jedoch kann in seinem Lauf im besten Falle fĂŒr einige Momente aufgehalten werden. Doch Vermittlung und Übertragung von ErzĂ€hlungen und Erinnerungen setzen ihm konkret etwas Lebendiges entgegen. Stellen wir uns also dem Zahn der Zeit, indem wir horchen, schauen und erzĂ€hlen!

MARTIN STEINER, Kantonsschullehrer und freischaffender Kulturschaffender